Geburts-Schein Emma Trube, 1914
Ludmila Wilhelm – schon der Name sagt viel aus über das Leben einer Frau aus dem Osnabrücker Land, die, wie sie es selbst beschreibt, 1993 "von einer langen Reise zurückgekehrt ist": Ihr Vorname ist russisch, ihr Nachname deutsch. Jene Reise beginnt mit einem Stück Papier: der Geburtsbescheinigung ihrer Mutter. Der Vordruck ist in deutscher Sprache verfasst, die einzelnen Felder sind handschriftlich in Russisch ausgefüllt. Das Dokument stammt aus der "Autonome Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen" und bescheinigt die Geburt der Emma Trube als Tochter von Johann (Filipovitsch) Trube und Amalia (Gejnrihovna) Rusch im Dorf Zürich im Kanton Marxstadt.
Als Geburtsdatum sind zwei Daten angegeben: der 19. Januar 1914 nach dem älteren julianischen und der 2. Februar 1914 nach dem gregorianischen Kalender. Sie dokumentieren die politische und gesellschaftliche Zeitenwende in Russland, als 1917 mit der "Oktober-Revolution" das Zarenreich beendet und von der Sowjetunion abgelöst wurde. Mit der politischen Wende wurde auch der Kalender geändert – unter den orthodoxen Zaren war noch der alte julianische Kalender gültig gewesen. Mit der Revolution entstand, wie für viele anderen Nationalitäten auch, für die Deutschen, die sich insbesondere seit der Zeit Katharinas II. in Russland gesiedelt hatten, an der Wolga ein eigenes Territorium: 1918 zunächst als sowjetische Arbeitskommune und 1924 als Autonome Sozialistische Sowjetrepublik (ASSR) der Wolgadeutschen. 1939 waren etwa zwei Drittel der 605.000 Einwohner Deutsche.
Quer über den Geburtsschein ist ein rechteckiger Stempel gesetzt, der übersetzt lautet: "Pass ausgestellt im Jahre 1933." In diesem Jahr ist der Geburtsschein offensichtlich ausgestellt worden, um einen Ausweis beantragen zu können. 1933 wurde Emma Trube 19 Jahre alt. Vermutlich erhielt sie als Volljährige nun einen eigenen Pass. Das Jahr "1933" verweist zugleich auf eine für die europäische Geschichte bittere und äußerst prägende Zeit. Als im Deutschen Reich die Nationalsozialisten an die Macht kamen, begannen in der Wolgarepublik Repressalien gegen Deutsche, auch wenn sie nicht der nationalsozialistischen Ideologie anhingen. Nachdem die deutsche und die sowjetische Armee 1939 noch gemeinsam Polen überfallen und das Land unter sich aufgeteilt hatten, folgte 1941 der Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion, der brutal gegen die "Rote Armee", aber auch gegen die Zivilbevölkerung wie die "Juden" geführt wurde. Es kam zu Massenerschießungen und anderen Gräueltaten. Die Wolgadeutschen in der Sowjetunion wurden noch 1941 per Dekret kollektiv als Kollaborateure verurteilt und insbesondere nach Sibirien und Kasachstan umgesiedelt. Viele wurden als vermeintliche Landesverräter ermordet, ein großer Teil musste Zwangsarbeit leisten. Die Autonome Republik wurde aufgelöst.
Der Zweite Weltkrieg endete 1945 mit einer schrecklichen Bilanz, gerade auch für die Sowjetunion. Von den 56 Millionen Toten des Krieges entfallen allein 21 Millionen auf die UdSSR. Davon waren 13,6 Mio. Soldaten und 7,5 Mio. Zivilpersonen. Nicht zuletzt deshalb wurde der "Große Vaterländische Krieg" in der Sowjetunion als Sieg über Nazideutschland gefeiert. Darunter hatten die Deutschen in der UdSSR auch nach 1945 zu leiden. Erst 1964 wurden sie offiziell rehabilitiert. Die Republik der Wolgadeutschen wurde jedoch nicht wieder errichtet.
All diese Ereignisse prägten Emma Trube. Als Deutsche in der Sowjetunion musste sie erleben, wie ihr Bruder 1938 als "Antikommunist" erschossen wurde. Sie erlebte die Zwangsumsiedlung der Wolgadeutschen in den Kaukasus. Um keine Probleme zu bekommen, sprach sie nur Russisch. Als ihre Tochter 1953 auf die Welt kam, erhielt diese einen russischen Vornamen: Ludmila. Ludmila, geschult von der Parteipropaganda in Schule und Jugendorganisationen, wuchs als "ideale Sowjetbürgerin" auf. Gerade deshalb verstand sie nicht, weshalb sie gelegentlich wegen ihres deutschen Nachnamens gehänselt wurde. Als Erwachsene trat sie zunächst in die KPdSU ein. Erst sehr spät und ganz allmählich entdeckte sie ihre deutschen Wurzeln. 1993 entschied sie sich, in die BRD auszureisen. Der unscheinbare Vermerk vom Registrierungsverfahren in Bramsche vom 26. Juli 1996 auf der Rückseite des Geburtsscheins, der vom der Einbürgerungsverfahren ihrer drei Jahre später einreisenden Mutter stammt, wirkt wie der Schlusspunkt einer langen Reise durch die Zeit, die in der wolgadeutschen Sowjetrepublik ihren Anfang nahm und in der Bundesrepublik Deutschland der Gegenwart endet. In Ihren eigenen Worten schreibt Ludmila Wilhelm über diese ihre "Reise":
"Ich bin Deutsche. Meine Heimat ist Deutschland. Ich bin von einer langen Reise heimgekehrt. Diese Reise ging über 15.000 Kilometer und hat etwa 300 Jahre gedauert. In der Ferne habe ich meine Muttersprache vergessen. Meine Mutter kannte beide Sprachen ganz gut. Sie konnte Deutsch sprechen, lesen und schreiben, obwohl sie keine Schule besucht hat. Sie gab sogar ihren Enkelkindern und den Nachbarskindern Nachhilfe. Trotzdem sprach sie grundsätzlich nur Russisch. Ich denke, sie wollte, dass wir, ihre Kinder, uns gut integrieren und keine Schwierigkeiten und Probleme in diesem Land bekommen. Dort, wo wir wohnten.
Meine Mentalität hat sich verändert und die deutsche Kultur ist mir fremd geworden. Obwohl – das stimmt nicht ganz. Ich erinnere mich an meine Kindheit: Bei uns zu Hause stand ein geschmückter Tannenbaum bereits vom 24. Dezember bis zum 14. Januar. Jahr für Jahr. Wissen Sie warum? Was meinen Sie, warum? Genau: Am 24. Dezember haben wir Weihnachten gefeiert. Am 31. Silvester, am 6. Januar russisches Weihnachten und am 14. Januar nochmals Silvester – nach dem alten julianischen Kalender. Nach der russischen "Oktoberrevolution" hat sich der Kalender verändert. Seit dieser Zeit rechnete man, wie in den restlichen Ländern Europas, nach dem gregorianischen Kalender. Zu Weihnachten backte Mama einen leckeren Kuchen und sein Duft breitete sich im ganzen Dorf aus. Papa brachte einen Tannenbaum aus dem Wald mit. Ich weiß nicht, wann Mama ihre ganzen Vorbereitungen erledigen konnte, aber wenn ich am Morgen des Heiligen Abends ins Wohnzimmer kam, sah ich in dessen Mitte eine riesengroße Tanne mit einem fünfzackigen Stern auf der Spitze. Der Weihnachtsschmuck leuchtete und glänzte. Ein Duft von Lebkuchen, Tannenzapfen und frischer Waldluft verströmte im ganzen Wohnzimmer. Alles war so märchenhaft faszinierend. Später bei Tisch unterhielten sich meine Eltern darüber, wie sie selbst in ihrer Heimat Weihnachten feierten. Mama sang das deutsche Weihnachtslied: "Oh, Tannenbaum, oh, Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter..."
Obwohl meine Familie klein war und nur aus meiner Mutter, meinem Vater und mir bestand, bereiteten sich meine Eltern voller Vorfreude auf das Weihnachtsfest vor. Wahrscheinlich war es auch die Sehnsucht nach der Heimat, aber auch nach alter Tradition und Kultur, die in ihrer Seele tief verwurzelt war. Ein Zeichen dafür war möglicherweise der Weihnachtsbaum, der so früh geschmückt und so lange zu Hause stand.
Ich lebte in einem kleinen Dorf im Wald. Es hieß lesnaja poljana, was übersetzt Waldwiese bedeutet. Ein schöner Name und schön gelegen. Hier wohnten Menschen unterschiedlichster Nationalitäten. Wir Kinder gingen zur Dorfschule und spielten auch alle gemeinsam draußen im Wald. Meine besten Freundinnen waren eine Kasachin Akslu und eine Tatarin Rosa. Aber ich wünschte mir immer, russisch zu sein. Russen sind doch die besten, die stärksten, dachte ich. Sie siegen immer, beschützen alle und helfen jedem. Sie sind Helden. So habe ich es oft in Filmen gesehen. Wie oft haben dort die Filmstars des Kinos geschrien: "Hurra! Für die Roten!" Sie waren nämlich gegen die Weißen. Einmal hörte ich etwas anderes: "Hurra! Für Mütterchen Russland! Schlagt die Faschisten! Tötet die Deutschen!" Ich war damals sieben. Ich wollte verstehen, wer die Faschisten sind und warum man die Deutschen töten musste. Und wer sind eigentlich wir? Ich zum Beispiel. Wir sind auch Deutsche. Aber welche? Gibt es einen Unterschied zwischen uns und den anderen? Gibt es auch andere Deutsche? Auf meine Fragen antworteten meine Eltern mir nicht. Ich war zu jung. Seit diesem Moment begann in mir der Kampf der Selbstfindung. Ich wollte mein "Ich" und meine Ideale verteidigen und die anderen davon überzeugen, wie alle anderen zu sein.
Während einer Zugfahrt lernte ich einmal eine Frau kennen. Sie war sehr überrascht, als sie im Laufe des Gesprächs meinen Nachnamen hörte.
"Bist du Deutsche?"
"Ja."
"Woher bist du gekommen?"
"Ich bin hier geboren", antwortete ich. Diese Aussage hat sie verblüfft.
"Und wo kommen deine Eltern her?", fragte sie erneut.
"Auch von hier."
So große Augen habe ich noch nie zuvor gesehen. So groß war ihre Verwunderung. Und diese Verwunderung hat mich selbst in Erstaunen versetzt. In diesem Moment verstand ich, dass ihre Vorstellung von Deutschen bisher immer in Verbindung mit den "Faschisten" aus dem Ausland verbunden war. Andere Deutsche kannte sie nicht.
Jetzt bin ich hier in Deutschland. Was meinen Sie, welche Fragen mir meine Kunden stellen, wenn sie mich zum ersten Mal sehen? "Woher kommen Sie?" oder "Sind Sie Russin?" Meine Antwort lautet "Ich bin Deutsche und habe das Glück, in Russland geboren zu sein."
Ich habe ein besonderes Dokument, eine Bescheinigung nach dem Bundesvertriebenengesetz. Das unterscheidet mich von euch. Dieses Dokument liegt bei mir im Schrank in einer Schublade, gut versteckt, damit es niemand sieht. Wo verstecke ich meinen Akzent? Meine Mentalität, meine Kultur? Ehrlich gesagt möchte ich das gerne behalten. Außer dem Akzent. Meine Sprachkenntnisse sollte ich verbessern. Wie oft ich das höre! Seltsam – Die Sprache, die meine Muttersprache sein soll, lerne ich als Fremdsprache.
Ich bin Taxifahrerin. 1999, zu Beginn meiner Arbeit, ereignete sich eine kuriose Geschichte. Ich sollte einen Polizisten aus dem Krankenhaus nach Hause fahren. Wie üblich half ich ihm, seine Tasche im Kofferraum zu verstauen, die Tür für ihn zu öffnen und ihn anzuschnallen. Als Taxifahrerin bin ich hilfsbereit, freundlich und während der Fahrt auch gesprächig. Nicht dieses Mal. Ich hatte noch nicht mal den ersten Gang drin, da frage er mich schon: "Was treibst du hier?"
Diese Frage fasste ich als eine Beleidigung auf. Ich verstand sofort, was er damit sagen wollte. Er meinte, dass ich aus Russland bin, und dachte sofort schlecht über mich, weil er während seiner Dienstzeit schlechte Erfahrungen mit meinen Landsleuten macht. In mir sind alle Hormone hochgesprungen. Ich kenne doch mein Volk und kenne es besser als er. Nicht alle sind Idioten, Alkoholiker oder Verbrecher! Die Deutschen sind doch auch nicht ohne.
Deshalb reagierte ich blitzschnell: "Und was treibst du hier?"
"Ich lebe hier", antwortete er ernst.
"Ich auch", erwiderte ich kurz angebunden. Habe ich zwei Heimaten? Oder eine große, die in sich beide Länder, Russland und Deutschland beinhaltet? Ich liebe beide. Ich habe dort und hier Verwandte und Freunde. Aber wo ist das Dort und wo ist das Hier? Ich bin Deutsche. Meine Heimat ist Deutschland. Ich bin von einer langen Reise zurückgekehrt."
Titel: Geburtsschein für Emma Trube (1914–2002)
Material/Technik: Papier, Druck, Handschrift
Herstellungsort: UdSSR, Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen
Datierung: 19. Januar/2. Februar 1914, 1933, 1996
Maße: ca. 16 x 19 cm
Bemerkungen: Vordruck in deutscher Sprache, handschriftliche Eintragungen in russischer Sprache; rückseitiger Vermerk vom Registrierungsverfahren in Bramsche vom 26. Juli 1996
Aufbewahrungsort: Ludmila Wilhelm, Bramsche
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