Stofftasche, Spanien ca. 1981
Paloma Padilla Hueso stand 1979 als Studentin des Wirtschaftsrechts in Madrid kurz vor dem Staatsexamen, als ihr von ihrem Englischdozenten eine Stelle als Fremdsprachenassistentin an einer britischen Schule vermittelt wurde, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Paloma hatte bereits Erfahrung im Unterrichten von Bildungskursen für junge Berufstätige in ihrer Gemeinde gesammelt und so brach sie, bestärkt durch den überraschend festen Rückhalt ihrer Familie, nur wenige Wochen später voller Neugier auf nach England. Eine sehr mutige Entscheidung einer jungen Spanierin, deren Land gerade, nur wenige Jahre nach dem Ende der Franco-Diktatur, die ersten Schritte in Richtung Demokratie wagte.
Paloma Padilla ahnte nicht, dass dieser Auslandsaufenthalt nur der Beginn eines noch viel größeres Abenteuers sein würde: „Denn plötzlich wurde mir ein deutscher ‚Language Assistant‘ vorgestellt, ein Karl Otto! Und ich dachte: Typisch! Typisch deutsch, Karl Otto! […] Ja, und so fing das alles an. So fing das Leben an.“ Denn schwer verliebt kehrte die junge Spanierin zwar nach neun Monaten in England wieder nach Madrid zurück, um ihr Studium abzuschließen. Doch danach zog es sie direkt zu ihrem Karl Otto, der nach seinem Studium an der Fachhochschule Osnabrück nun in Paderborn arbeitete. Paloma arbeitete zunächst ein Jahr als Au-Pair in einem kleinen Ort in der Nähe von Detmold und nahm staunend wahr, was alles um sie herum anders war als zu Hause in Spanien: vom grün-alternativen Lebenswandel ihrer Gastfamilie über den Ärger, den sie sich von Passanten einhandelte, weil sie als Fußgängerin eine rote Ampel missachtete, bis hin zur für sie fast bedrückenden Stille in deutschen Cafés und in der Öffentlichkeit: „Manchmal hab ich gedacht: Man, ich muss hier schreien! Oder singen!“
1981 zog die Spanierin endgültig nach Paderborn und heiratete ihren deutschen Freund. Dank ihrer Lehrerfahrung aus Madrid und England erhielt sie bei einer Sprachschule in Paderborn eine Anstellung als Spanischlehrerin; zum Glück, denn ihre eigentliche Qualifikation als Wirtschaftsjuristin wäre in Deutschland nicht ohne Weiteres anerkannt worden. 1983, nach der Geburt des ersten Sohnes, zog die Familie nach Osnabrück, wo 1985 ein weiterer Junge geboren wurde. Bald darauf begann die junge Mutter wieder, Spanisch zu unterrichten; privat zu Hause und ganz entspannt bei einem Glas Wein. Ihre KundInnen fand sie damals über Inserate in der Zeitung.
Ebendort entdeckte sie Ende der 1980er Jahre auch einen Hinweis auf das Fremdsprachenangebot des Fachbereichs Jura an der Universität Osnabrück, welches auch Spanisch beinhaltet. Eine sehr gute Freundin, die gerade aus Spanien zu Besuch war, witterte Palomas Chance und überredete sie, sich spontan mit einem provisorischen Lebenslauf an der Universität als Sprachdozentin zu bewerben, während die Söhne im Kindergarten waren. Im Dekanat der Jura-Fakultät erfuhren die beiden zwar von der sichtlich überrumpelten Sekretärin, dass gerade kein Personalbedarf im Bereich Spanisch bestand. Doch Palomas unkonventionelle Bewerbung schien Eindruck hinterlassen zu haben: Drei Tage später meldete sich der Dekan telefonisch bei ihr, weil sich sehr kurzfristig doch eine Vakanz ergeben hatte. Seither ist Paloma Padilla Sprachdozentin an Osnabrücks Hochschulen, erst für Anfängerkurse, später mit Erweiterung des Angebots vor allem im Bereich der fachspezifischen Fremdsprachenausbildung für JuristInnen, BetriebswirtschaftlerInnen und andere Studienrichtungen. Paloma ist glücklich, ihre Leidenschaft – das Unterrichten – zum Beruf gemacht zu haben und genießt den Austausch mit immer neuen Generationen von Studierenden.
Die deutsche Sprache hat die Madrilenin eher nebenbei gelernt, „auf der Straße“. In Detmold besuchte sie als Au-Pair zwar einen VHS-Kurs, doch viel lieber zog sie einfach mit ihrem Wörterbuch los. Dadurch erlebte sie auch das eine oder andere sprachliche Missverständnis, etwa als sie in Paderborn in einer Fachmetzgerei Hackfleisch kaufen ging und stolz vom Schildchen an der Theke ablas: „Ein Pfund Gekacktes, bitte!“ Die Begriffsstutzigkeit der Verkäuferin und ein pikiertes „Waaaaaaas??“ führten dazu, dass Paloma erneut, mit lauterer Stimme, „ein Pfund Gekacktes“ durch den Laden rief. Erst am Erröten der Verkäuferin merkte sie, dass sie wohl etwas Falsches gesagt hatte. Aber ihre positive Lebenseinstellung und ihr Humor bewahrten sie stets vor allzu herben Niederschlägen in der Fremde.
Die lebensfrohe Paloma Padilla repräsentiert gelungene Integration ‚wie aus dem Bilderbuch‘: Sie spricht fließend Deutsch, hat ihre beiden Söhne zweisprachig erzogen und trägt durch ihre Dozententätigkeit zur interkulturellen Bildung Osnabrücker Studierender bei. Zusammen mit ihrem deutschen Ehemann hat sie sich in den vergangenen 30 Jahren ein Familienleben mit eigenem Haus aufgebaut. Sie fühlt sich definitiv wohl in Osnabrück und Deutschland. Dennoch ist und bleibt sie in ihrer Seele spanisch. Der spanischen und lateinamerikanischen Auffassung von „Familie“ folgend, lebt für Paloma ihre „familia“ – Eltern, Geschwister usw. – in Spanien.
Die Nähe zur Familie ist ihr stets sehr wichtig gewesen. In Zeiten, als es noch kein Internet gab und ein Telefonat ins Ausland sehr teuer war, schrieb die Spanierin wöchentlich einen Brief an ihre Verwandten und erhielt im Gegenzug jede Woche einen dicken Sammelumschlag aus Madrid, mit Post von den Eltern, Schwestern oder Tanten. Über die Jahre haben sich so mehrere hundert Briefe angesammelt, die Paloma in einer Kiste hütet wie einen Schatz. Seit ihrem Umzug nach Deutschland hat Paloma Padilla ihre Eltern regelmäßig mit Ehemann und Kindern besucht, meist zweimal im Jahr. Seit ein paar Jahren fährt sie noch häufiger nach Spanien, aufgrund familiärer Verpflichtungen ebenso wie beruflich bedingt – als Begleitperson für Studierende der Hochschule Osnabrück.
Vor Jahren sagte eine Freundin zu Paloma: „Ach, du hast Spanien noch nie verlassen!“, und dem stimmt sie zu. Für sie, wie für viele MigrantInnen, ist die Familie wie eine Brücke zwischen zwei Ländern und zwei Kulturen. Während eines Familienausflugs nach Toledo, kurz vor ihrer Fahrt nach Deutschland, hatte der Vater Paloma eine schöne und zugleich praktische Umhängetasche aus Stoff gekauft. „Guck mal, das ist genau, was du brauchst für deine Reise“, hatte er damals gesagt. Doch in der praktischen Tasche steckte weit mehr. Sie erinnert Paloma seit 30 Jahren im Alltag an ihr Heimatland, aber vor allem an die Liebe ihrer Familie und den Rückhalt, den sie damals bei ihrem ‚großen Schritt‘ in ihr gefunden hat.
Ihr großer Traum ist es, gemeinsam mit ihrem Mann nach Abschluss ihres Arbeitslebens zwischen Deutschland und Spanien zu pendeln: „Das wäre mein Luxus“, sagt sie. Ganz zurück nach Spanien will sie schon allein wegen ihrer Söhne nicht, die wohl in Deutschland bleiben werden.
Fühlt sie manchmal ein bisschen Reue über den gewählten Weg? Nein, ernsthafte Bedenken, ob sie denn mit ihrer Migration möglicherweise eine falsche Entscheidung treffen könnte, hat Paloma Padilla nie gehabt: Ihre Zuversichtlichkeit, zusammen mit dem Bewusstsein über die Unterstützung ihrer Familie und dem Glauben an Gott haben sie einerseits in ihren Entscheidungen bestärkt und ihr andererseits die Option der Rückkehr offen gehalten, sollte sie sich einmal nicht mehr in Deutschland wohl fühlen. Im Gegensatz zu vielen anderen MigrantInnen ihrer Zeit, die aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen auswandern mussten, hat sie sich freiwillig für ihre „Migration aus Liebesgründen“ entschieden, wie sie sagt.
Und dennoch: Was ihre Familie in Spanien betrifft, hat sie so einiges an Freud und Leid dort schlicht nicht miterleben können. „Man kann nur dort oder hier sein“, wertet sie pragmatisch, und hängt sich die Spanien-Tasche über die Schulter. Doch genau dieser ‚Spagat‘ zwischen dem Hier und Dort gelingt Paloma Padilla mit bewundernswerter Leichtigkeit.
(Julia Wagner)
Titel: blaue Stofftasche mit Aufschrift „Toledo – España“
KünstlerIn/HerstellerIn: unbekannt
Material/Technik: Stoff, gewebt
Herstellungsort: Spanien
Datierung: ca. 1981
Maße: 41 x 40 x 2 cm
Bemerkungen: Geschenk des Vaters
Aufbewahrungsort: Paloma Padilla Hueso, Osnabrück
Wegen Umbau geöffnet
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